In Organisationen zeigt sich häufig ein Kommunikationsmuster, das leise wirkt, aber tief eingreift:
die Umkehr der Verhältnisse.
Sie entsteht, wenn jemand eine einseitige Entscheidung trifft – etwa eine Aufgabe entzieht oder eine Zusammenarbeit beendet – und anschließend so kommuniziert, als trage die betroffene Person die moralische Verantwortung.
1. Der Machtakt: Eine Person entscheidet – die andere muss damit leben
Eine Bereichsleitung entzieht einer Projektmanagerin die Verantwortung für ein Projekt und gibt es an ein anderes Team.
Die Botschaft lautet:
„Wir setzen das Projekt künftig anders auf.“
Das ist ein klarer Machtakt: Eine Person entscheidet; eine andere hat die Konsequenzen zu tragen.
2. Die moralische Erwartung: Nähe wird eingefordert, nachdem Distanz geschaffen wurde
Kurz darauf folgt eine irritierende Wendung.
Beispiel:
Nach dem Entzug der Verantwortung sagt die Bereichsleitung:
„Ich hätte mir von dir mehr Offenheit und Vertrauen gewünscht.“
„Ein persönliches Gespräch wäre mir wichtig gewesen.“
Wer Distanz geschaffen hat, fordert nun Nähe ein.
Die strukturelle Entscheidung bleibt – doch das Gespräch dreht sich plötzlich um das Verhalten der Betroffenen.
3. Die Bedeutungsumkehr: Verantwortung wandert zur Betroffenen
Jetzt kehrt sich die Logik um.
Beispiel:
Als die Projektmanagerin sachlich reagiert, heißt es:
„Schade, dass du so unkollegial reagierst.“
Damit wird nicht mehr über die Entscheidung gesprochen, sondern über ihre angeblich mangelnde Haltung.
Die Verantwortung verschiebt sich:
Nicht der Machtakt steht im Mittelpunkt, sondern die Reaktion darauf.
4. Die psychologische Funktion: Selbstbild schützen, Kontrolle behalten
Durch diese kommunikative Drehung kann die entscheidende Person:
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das eigene Selbstbild schützen („Ich handle fair“),
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Schuldgefühle abwehren („Der Fehler liegt nicht bei mir“),
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die Deutungshoheit behalten („Ich bestimme, was das Problem ist“).
So wird der strukturelle Entscheidungsmoment verdeckt – die moralische Bewertung dominiert.
5. Wirkung: Doppelbindung und Irritation
Die betroffene Person steht in einem paradoxen Spannungsfeld:
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Ihr wurde Handlungsspielraum entzogen,
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gleichzeitig soll sie moralisch kooperativ sein.
Typische innere Fragen lauten:
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„Wie soll ich Nähe zeigen, wenn mir gerade die Grundlage entzogen wurde?“
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„Wie hätte ich anders reagieren können?“
Folgen:
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Verwirrung
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Selbstzweifel
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moralische Verunsicherung
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innere Spannung
Diese Reaktionen sind kein persönliches Defizit, sondern eine nachvollziehbare Reaktion auf eine kommunikative Paradoxie.
6. Machtsensible Perspektive: Was sichtbar wird
Die Umkehr der Verhältnisse zeigt sehr klar:
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Macht manifestiert sich nicht nur in Entscheidungen, sondern in deren Erzählung.
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Moralische Sprache kann Grenzziehungen verschleiern.
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Verantwortung lässt sich unbemerkt verschieben.
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Die Deutungshoheit ist oft die eigentliche Machtressource.
Erst wenn dieses Muster benannt wird, kann Verantwortung dort bleiben, wo sie hingehört.
Essenz
Die Umkehr der Verhältnisse ist ein subtil wirkendes Machtmuster:
Auf eine einseitige, strukturelle Entscheidung folgt eine moralische Umdeutung – die Verantwortung wird der betroffenen Person zugeschrieben.
Machtsensible Räume erkennen diese Drehung und benennen sie,
damit Klarheit, Verantwortung und Würde gewahrt bleiben.